Von der Wohnwelt geprägt

Die Wohnpsychologin Antje Flade über familiengerechtes Wohnen und den Einfluss des Wohnumfelds auf die Lebens- und Entwicklungschancen von Eltern und Kindern

Welchen Einfluss hat die Art zu wohnen auf das Wohlbefinden von Eltern und Kindern und auf das Gelingen von „guter Erziehung“ und kindlicher Entwicklung?

Einen entscheidenden. Das zeigen die Ergebnisse der Wohnforschung: Familie ist ein „Ökosystem“, in dem nicht nur die anderen Personen, sondern auch die physisch-räumliche Umwelt das Zusammenleben be-stimmen. Dabei kommt eine Vielzahl von Faktoren zum Tragen. Großen Einfluss haben neben der Qualität der Architektur auch die Wohnlage, die darüber entscheidet, wie gut die Familienmitglieder ihre Arbeitsplätze, die Kindertagesstätte, Schulen und andere wichtige Orte erreichen können, sowie die Wohnumgebung – die Frei-räume und die grüne Natur, die sie anbietet, aber auch die Verkehrsanbindung und die öffentliche Sicherheit. Ferner: die Wohnkosten, die Belegungsdichte… Das alles wirkt sich auf die Entwicklung von Kindern aus, direkt und indirekt auf dem Umweg über das Verhalten der Eltern. In einer ungünstigen Wohnumwelt drohen Kindern nicht nur Bewegungsarmut, sondern auch Defizite in der Intelligenz- und Sprachentwicklung, der Leistungsmotivation und des Sozialverhaltens. Mangelnde Konzentrationsfähigkeit, fehlende Ausdauer, schulisches Versagen und Verhaltensstörungen entspringen keines-falls immer individual-psychologischen oder inner-familiären Problemen; statt einer Psychotherapie wäre in manchen Fällen eher eine Wohnumwelt-Therapie angebracht.

Wie hängt das elterliche Erziehungsverhalten zusammen mit den Möglichkeiten und Grenzen, die Räume bieten oder aufnötigen?

Das elterliche Verhalten lässt sich anhand von zwei bi-polaren Dimensionen charakterisieren: Zuwendung und Liebe statt Ablehnung sowie Gewährung von Autonomie statt übermäßiger Kontrolle. Darin drücken sich nicht nur die grundsätzlichen Einstellungen von Eltern aus, sondern auch Wohnbedingungen wie beengte Räumlichkeiten, die Möglichkeiten in der Wohnumgebung und die Nachbarn, mit denen man auskommen muss. Kinderlärm kann sogar ein Kündigungsgrund sein! Eltern fällt es deshalb viel leichter, mit ihren Kindern liebevoll umzugehen und ihnen Freiräume zu lassen, wenn Wohnung, Wohnumgebung und die Nachbarn das erlauben.

Kommen wir zur eigentlichen Wohnung: Was zeichnet eine familiengerechte Architektur aus?

Ein immer wiederkehrendes Thema ist die Nutzungsoffenheit der Wohnräume. Das heißt: Die Funktion eines Raums ist nicht fixiert auf „Kinderzimmer“, „Schlafzimmer“, „Wohn- und Esszimmer“; vielmehr können die Bewohner selbst entscheiden, wie sie einen Raum nutzen. Umso eher können sie die Wohnung nach ihren eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen einrichten. Das ist für Familien besonders wichtig, weil sich diese Bedürfnisse wegen des hohen Entwicklungstempos der Kinder relativ schnell verändern.

Das heißt, dass insbesondere ein Kinder- und Jugendzimmer im Lauf der Jahre ganz unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht werden muss?

Im Kleinkindalter muss dieser Raum vor allem Schutz vor Lärm und Unruhe sowie Platz und Dinge zum Spie-len bieten. Mit Beginn der Schuljahre treten dann andere Funktionen in den Vordergrund. Das „Kinder“-Zimmer dient jetzt nicht nur als Arbeitsplatz für Schularbeiten, sondern vor allem auch als Ort, an dem man ungestört von Erwachsenen mit Gleichaltrigen zusammen sein kann. Hier können die Freundinnen und Freunde zu Besuch kommen; dieser Raum wird damit zum „Wohnzimmer“ des Kindes. Diese Autonomie-Dimension gewinnt im Jugendalter noch weiter an Bedeutung. Das eigene Zimmer wird zum Raum, der Rückzug und das selbstbestimmte Ausprobieren des eigenen Stils und der eigenen Persönlichkeit ermöglicht – sofern die Jugendlichen die Freiheit haben, es selbst zu gestalten.

Und das alles muss ein Raum leisten, dem Mehrfamilienhaus-Architekten gerade mal zehn, maximal zwölf Quadratmeter gönnen?

An dieser Stelle wird deutlich, wie wichtig die Nutzungsoffenheit der Wohnräume ist. Sie ermöglicht es, Zimmer zu tauschen oder auch zu teilen, wenn die Kinder älter werden oder die Familie größer wird. Voraussetzung ist, dass der Wohnungsgrundriss, insbesondere die Lage und die Größen der einzelnen Räume das zulassen.

Und welchen Einfluss haben die Wohnumgebungen auf die Entwicklung von Kindern?

Ein intaktes Wohnumfeld erfüllt verschiedene Funktionen. Kinder und Jugendliche können sich dort mit anderen treffen und gemeinsam spielen oder etwas unternehmen, für eine gewisse Zeit häuslicher Enge und elterlicher Kontrolle entkommen, Raum greifende Aktivitäten ausüben, für die in der Wohnung kein Platz ist, und ganz allgemein Neues erleben und Anregungen finden. Fehlende Freiräume in der Wohnumgebung sind damit gleichbedeutend mit weniger Sozialkontakten, weniger Aktivitäten, weniger Anregungen. Dazu kommt noch ein Mangel an Autonomie; Kinder und Jugendliche können keine Erfahrungen auf eigene Faust machen und finden keine Herausforderungen, die sie eigenständig meistern könnten. Ihnen fehlt die „Gegenwelt“ zu der geschützten, aber eben auch stärker kontrollierten Wohnung. Eine Studie hat gezeigt, dass die Großeltern-Generation durchschnittlich mit 5,5 Jahren, die Eltern-Generation mit 6,8 und die Enkel-Generation erstmals mit 7,6 Jahren allein nach draußen gehen durfte. Der Trend ist deutlich: eine „Verhäuslichung“ der Lebenswelt der Kinder.

Ist das so schlimm?

Diese „Verhäuslichung“ verschiebt die Balance von Autonomie und elterlicher Kontrolle. Eine Folge ist, dass die Kinder mit einiger Verspätung selbstständig werden oder Entwicklungsaufgaben nicht zur rechten Zeit lösen.

Hat das auch Rückwirkungen auf die Eltern?

Natürlich. Unter dem Eindruck, dass die Wohnumgebung nicht verkehrssicher ist, schränken sie den kindlichen Aktions- und Bewegungsraum ein und neigen dazu, ihre Kinder auf jedem Weg zu begleiten. Diese Strategien sind aber letztlich nicht erfolgreich, denn der Preis ist die verringerte Autonomie der Kinder und ein vermehrter elterlicher Betreuungsaufwand.

Leider können nur die wenigsten Eltern ungünstigen Wohnbedingungen und -umgebungen von heute auf morgen entfliehen. Können sie trotzdem mehr tun als sich einfach damit abzufinden?

Es stimmt: Vielerorts kann wohl nur ein Umzug Eltern und Kindern bessere Lebens- und Entwicklungsbedingungen verschaffen; auch wenn das für viele Familien schwer machbar erscheint, sollten sie jeder Chance dazu nachgehen. Aber auch unter weniger günstigen Bedingungen gibt es Möglichkeiten, punktuell etwas zu verbessern. Zum Beispiel sind viele Wohnungen unnötig beengt, weil sie mit großen oder zu vielen Möbeln voll-gestellt sind. Und vielerorts haben Mieter- oder Nachbarschaftsinitiativen gezeigt, dass sich gemeinsam das eine oder andere zur Verbesserungen des Wohnumfelds erreichen lässt. Hier wurde ein gemeinsamer Spielplatz angelegt, dort eine Verbesserung der Busanbindung oder die Einrichtung einer Schulbuslinie durchgesetzt.

Welche Bedeutung haben in diesem Zusammenhang Initiativen zur Verkehrsberuhigung?

Eine große Untersuchung in einem Wohngebiet in Hannover, wo die Stadt verkehrsberuhigende Maßnahmen durchführte, hat gezeigt: Danach spielten mehr Kinder in den Straßen, sie hielten sich länger dort auf und auch die Art ihrer Spiele änderte sich. Die Kinder kommunizierten mehr miteinander, fuhren häufiger Rad, spielten mehr Rollenspiele. Die Verkehrsberuhigung in diesem Viertel kommt eindeutig der Entwicklung der Kinder zugute! n

Im Gespräch

Dr. Antje Flade arbeitete bis 2005 als Umweltpsychologin und Sozialwissenschaftlerin im Institut Wohnen und Umwelt in Darmstadt. Danach gründete sie ein eigenes Büro für Angewandte Wohn- und Mobilitätsforschung (AWMF) in Hamburg.